Jesus die Tür

Impuls zum 4. Sonntag der Osterzeit/ 3. Mai 2020

Wer möchte sich schon gerne ein Schaf nennen lassen? Ein Tier, das sich von einem Hirtenhund einschüchtern und sagen lässt, wo es langgeht. Ein Tier, das für Raubtiere leichte Beute ist. Ein Tier, das stillhält, wenn es geschoren wird. Ein Opfer. Ein Herdentier. Wir alle möchten doch lieber ein Löwe oder Adler sein, stolze Tiere.

Wenn ich ehrlich bin, schwingt das für mich heute bei den Lesungen am 4. Sonntag Jubilate der Osterzeit mit. Im ersten Petrusbrief bescheinigt der Autor den frühen Christinnen und Christen der heidenchristlichen Gemeinden in Kleinasien, sich wie Schafe „verirrt“ zu haben, bevor sie Christen wurden. Im Johannes-Evangelium vergleicht Jesus die Welt gar mit einem Schafstall.

Als Christ identifiziere ich mich nicht zuerst mit einem Schaf. Da sträubt sich etwas in mir. Ich bin als Christ kein Herdentier, das einen Hirten und Hirtenhund braucht, die ihm sagen, wo es langgeht und dann brav hinterher trotten.

Wenn solche Bilder wie in den Lesungen an diesem Sonntag nicht in meine gegenwärtige Lebenswelt passen, greife ich zu einem kleinen Trick: Ich lese das Wort Gottes dann zum zweiten Mal und suche bewusst die Stellen, die meinen inneren Widerwillen ins Leere laufen oder meine Voreingenommenheit nicht bestätigen.

Und ich werde an einer Stelle fündig. Jesus sagt im heutigen Johannes-Evangelium nicht, dass er der Hirte für die Schafe ist, die ihm brav folgen, sondern er vergleicht sich mit der Tür des Schafstalles und zu den Schafen. „Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden.“

Das ist ein ganz anderes Bild: Jesus will nicht zuerst der Hirte oder der Hirtenhund sein. Er will vielmehr eine Tür sein. Eine Tür verbinde ich mit Offenheit, Zugänglichkeit und Einladung. Türen öffnen den Zugang zu bisher Verschlossenem. Türen können offen stehen. Diese Redensart meint die grundsätzliche, unbürokratische Ansprechbarkeit zum Beispiel von Vorgesetzten im Beruf, von Eltern für Kinder oder kirchlichen Einrichtungen für Menschen in Not. Wieder eine andere Wendung meint: Wenn jemand alle Türen offen stehen, dann sind ihm alle Möglichkeiten gegeben, ein gutes Leben zu führen.

Wenn Jesus sich als Tür sieht, dann meint das im Grunde: Jesus ist die Bedingung dafür, dass wir in Freiheit das Gute wählen und durch die offenen Türen des Lebens gehen können. Selbstverständlich beinhaltet dies, dass Türen auch verschlossen sind oder sich schließen können. Aber grundsätzlich steht uns Jesus als Tür immer offen.

Jesus empfiehlt durch sein Gleichnis im heutigen Evangelium: Wer sich mit ihm durch das Lesen des Evangeliums beschäftigt, ihn dort kennenlernt und mit ihm vertraut wird, wer Gemeinschaft mit ihm in der Heiligen Kommunion pflegt und daraus für sein eigenes Leben praktische Schlüsse zieht, für den wird Jesus die Tür zur Welt. Der Gläubige wird ein freier Mensch. Er „wird ein- und ausgehen und Weide finden“, wie Jesus sagt. Dazu braucht der Mensch – im Bild des Schafes gesprochen – dann keinen Hirtenhund mehr, der die Schafe dorthin treibt, wo der Hirte sie haben möchte.

Ich wünsche Ihnen für diese Woche, dass Sie überall durch offene Türen gehen können, um ein „Leben in Fülle“ zu spüren.

Ihr Johannes Seibel

Evangelium nach Johannes

Der gute Hirt

1 Amen, amen, ich sage euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. 2 Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. 3 Ihm öffnet der Türhüter und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. 4 Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. 5 Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen. 6 Dieses Gleichnis erzählte ihnen Jesus; aber sie verstanden nicht den Sinn dessen, was er ihnen gesagt hatte. 7 Weiter sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. 8 Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. 9 Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. 10 Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.

Text aus der Einheitsübersetzung 2016, Joh 10,1-10

Foto: Katherine Hanlon/Unsplash

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