Kerzchen im Dom

Dr. Annette Jantzen schrieb in der AZ-Kolumne „andererseits“ vom 19.06.2019:

Es sind einfach zu viele, sagt Gott und stellt das Kerzchen zwischen die anderen. So viele. Wir stehen im Dom vor dem Kerzchenständer unter der Madonna. Ich hatte Gott auf dem Münsterplatz getroffen, wir hatten Eis gegessen und dem Akkordeonspieler zugehört, von der Fabelhaften Welt der Amélie bis zum Halleluja von Cohen. Gott war sehr still gewesen. Mensch Gott, hatte ich gefragt, was ist los? Komm, wir gehen in den Dom, hatte Gott gesagt, und da stehen wir nun. Gott zündet schon das vierte Kerzchen an. Für wen sind die alle?, frag ich. Und warum zündest du selber Kerzchen an? Das sind meine Knoten im Taschentuch, sagt Gott. Und damit ihr wisst, dass ich sie alle nicht vergesse. Für wen die sind, weißt du bestimmt. Für die Radfahrerin im Kreisverkehr in Haaren, sag ich. Und für den LKW-Fahrer. Und für die Fahrradfahrerin an der Vaalser Straße, und den LKW-Fahrer auch. Ja, sagt Gott und geht die restlichen Kerzchen durch. Das ist für Monas Papa, das hat ihre Lehrerin hier angezündet. Für gestorbene Mütter, für die vergewaltigte Freundin, für das Nachbarskind im Krankenhaus, für die Leute, die mal in Morschenich gewohnt haben. So viel Schmerz. Gott verstummt. Die Kerzchen flackern. Und für alles, was sich gar nicht sagen lässt, sondern wo Menschen mit randvollen Herzen in den Dom kommen und das muss einfach irgendwo hin, sag ich. So viel Solidarität. Und so viel Hoffnung, dass du bei uns sein wirst. Ob das reicht?, fragt Gott. Komm Gott, sag ich. Wir gehen ein bisschen durch die Stadt und schauen, ob es Grund zur Hoffnung gibt.

Es ist gut, wenn Menschen nicht alleine sind, sagt Gott, als wir Richtung Bushof gehen. Wenn die einen für die anderen Kerzchen anzünden. Oder wenn Menschen zusammen was auf die Beine stellen, sag ich. Kommst du eigentlich zum großen Klimastreik am Freitag? Ich hatte es vor, sagt Gott. Ich wollte aber inkognito bleiben wie immer. Glaubst du, das reicht?, frag ich. Ich glaube jedenfalls, dass es besser ist, hinzugehen, als nicht hinzugehen, sagt Gott. Und wenn alle tun, was sie können. Ich glaube, dass es Menschen Mut macht, wenn sie sehen, dass sie viele sind. Und dass sie etwas  bewegen. Wie beim Radentscheid auch, sag ich. Ja, sagt Gott. Wie überall, wo Menschen gemeinsam etwas verändern. Ich bin da so gerne mit dabei. Ich gucke dann zu und hoffe, dass sie den Mut nicht verlieren.  Und manchmal gehe ich dann in den Dom und zünde Kerzchen für sie an.

Ich muss weiter, sag ich. Aber wir sehen uns ja dann am Freitag, um 12 geht’s los. Ist gut, sagt Gott. Bis dann. Und Amen.

Dr. Annette Jantzen
Geistliche Verbandsleitung BDKJ Aachen, Regionale Frauenseelsorgerin Aachen-Stadt und -Land

annette[.]jantzen[at]bdkj-aachen[.]de

Foto: Mike Labrum/Unsplash

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