Wir Heilige

Wenn man in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz oder im Saarland wohnt, darf man sich am 1. November über einen zusätzlichen freien Tag freuen. Wie? Der ist schon verplant? Erst Kirche, dann Friedhof? Meist gehen Menschen am 1. November zum Friedhof, weil sie ein Fest am 2. November damit gleichzeitig vorwegnehmen: Allerseelen, das ist der Tag des Totengedenkens, der Tag für den Gang zu den Gräbern. Der 1. November ist „Allerheiligen“.

Ein kleiner Blick über den großen Teich: An Allerheiligen ziehen in Lateinamerika Scharen von Menschen auch auf die Friedhöfe, allerdings ausgestattet mit Ess- und Trinkbarem, und lassen sich zu einer Art Picknick an den Gräbern ihrer Lieben nieder. Allerheiligen also als richtiges Fest, nicht so novemberneblig trüb wie bei uns. 

Allerheiligen ist auch tatsächlich kein trauriges Fest. Es ist das kleine Schwesterfest von Ostern. Wir alle sind heilig – was bedeutet das? Im ersten Teil der Bibel, dem Alten Testament, ist die Rede vom heiligen Volk, das Gott sich auserwählt hat. Das heißt nicht, dass alle Menschen aus dem Land Israel mit einem Heiligenschein durch die Gegend liefen. Zu dieser Zeit kannte man keine einzelnen Heiligen, so wie die katholische Kirche sie heute verehrt. „Seid heilig!“, heißt es in der Bibel (Levitikus 19,2). Es ist das so genannte „Heiligkeitsgesetz“. Ist es merkwürdig, Menschen per Gesetz dazu anweisen, heilig zu sein?

Gar nicht so merkwürdig, wenn man den Vers weiterliest: „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig.“ Zwar ist zunächst allein Gott heilig. Aber Gott ist auch dadurch heilig, dass er heilig macht. Die Menschen, die er erschaffen hat, liebt er als sein heiliges Volk. Diese Auszeichnung bedeutet aber gleichzeitig eine Aufgabe, der die Menschen gerecht werden wollen: Wer weiß, dass ihm viel zugetraut wird, benimmt sich auch entsprechend.

Gott traut den Menschen etwas zu: Das zeigt er neu in Jesus, seiner Geburt, seiner Auferstehung. Durch die Taufe gehören Menschen zu ihm und seinem Heil. Sie sind eine „Gemeinschaft der Heiligen“ – eine solche Anrede wählt jedenfalls Paulus in seinen Briefen. Diejenigen, die an Jesus Christus glauben, spricht er an als die „berufenen Heiligen“, die als Gemeinde in Korinth, Rom, Philippi leben. Heute würde Paulus uns schreiben als den  Heiligen, die in Stuttgart, Kevelaer, Osnabrück, München oder in der Soers wohnen. Man muss nicht mit viel Fantasie etwas Besonderes tun, um heilig zu sein. Wer an Jesus Christus glaubt und zu seiner Gemeinschaft gehört,  wer mit am Tisch der Eucharistiefeier sitzt, gehört zu den Heiligen.

Einer der Ersten, der wegen seines Glaubens an Christus verfolgt und getötet wurde, ist der heilige Stephanus, von dem die Apostelgeschichte erzählt. Er steht am Anfang einer Reihe von so genannten „Märtyrern“. Das sind Menschen, die wegen ihres Glaubens leiden und sogar sterben mussten. Christen glauben, dass besonders solche Märtyrer und andere Heilige nach ihrem Tod bei Christus weiterleben und darum Gott auch für uns Menschen bitten können.

Um diesen Glauben auszudrücken, spricht die Kirche Menschen heilig, wie sie es etwa beim heiligen Martin und der heiligen Barbara oder dem heiligen Andreas getan hat.

Am Allerheiligentag können alle Menschen, die an Jesus Christus glauben, sich zusagen lassen: Wir sind heilig. Das Zweite Vatikanische Konzil, das vor genau 50 Jahren begann, beschäftigt sich in einem Dokument mit der „allgemeinen Berufung zur Heiligkeit in der Kirche“ (Lumen Gentium, fünftes Kapitel). Der Papst, der dieses Konzil einberief, Johannes XXIII. (Papst von 1958 bis 1963), sprach während seiner Amtszeit zehn Menschen heilig, bei Papst Johannes Paul II. (Papst von 1978 bis 2005) waren es 482. Die bekannten heiligen Kollegen können wir zum Vorbild nehmen: Man kann ein besonderes Leben führen, wenn man ganz aus dem Bewusstsein lebt, zu Gott zu gehören. Darum werden wir als getaufte Kinder nach Heiligen benannt, ihren so genannten Namenspatronen. Darin drückt sich die Hoffnung der Menschen auf ein gutes Leben nach Gottes Willen aus. Denn die Welt braucht, so heißt es in einem mittelamerikanischen Gebet, beide, „die Menschen, die wissen, dass sie Heilige sein sollten, und die Heiligen, die wissen, dass sie Menschen sein dürfen.“

Angela Reinders

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