Die Stimmen der Stadt

Die AZ-Kolumne “andererseits – Seelsorger*innen blicken auf die Stadt” hat mit Dr. Annette Jantzen, Geistliche Leitung BDKJ, eine neue  Stimme bekommen. Lesen Sie ihren ersten Betrag, der am 9.11. in der Aachener Zeitung erschienen ist.

Sich vorzustellen, die Stadt hat eine Stimme – oder nicht eine, sondern unzählige, die
zusammenklingen wie ein großer, etwas unorganisierter Chor: alle die geschriebenen Botschaften in der Stadt wären Stimmen, die lauten „Kauf mich! Iss mich!“ und die mahnenden „Bitte benutze diesen Mülleimer“. Die nachlässig hingenuschelten „ich war hier“-Graffitis. Die Gespräche an den Mauern wie das „Fuck Nazis!“ am Aachen Fenster, das jemand beantwortet hat mit der Frage „Damit sie sich vermehren?“. Die Menschenpflichten, die auf 18 großformatigen Bannern von Gerüsten und Fassaden hängen. Die Stop-Tihange-Plakate, die immer noch immer mehr werden, neue leuchtendgelb neben älteren, schon ausgeblichenen. Das „Fürchtet euch nicht“-Banner am Gerüst von St. Foillan. Die kleinen Aufkleber an Ampelpfosten, Laternen und Schildern: Fußball, Antifa und Bands. Suche Wohnung, Katze entlaufen, wer hat meine Fahrradtasche gefunden? Ganze und gebrochene Herzen. Namen und Daten. Mühsam zu entfernen oder Kreide, die der Regen bald abwaschen wird. Ärgerlich oder herzerwärmend.

Wenn alle diese vielen Botschaften Stimmen wären, welche würde dominieren? Welche würde man hören, welche würde untergehen? Welche würde man erst wahrnehmen, wenn sie fehlte? Und welche wäre meine?

Die Stadt als ein großer Kommunikationsraum, und das nicht nur im gesprochenen, sondern auch im gedruckten, gesprayten, geschriebenen Wort: Sieh mich an, ich war hier, ich möchte etwas hinterlassen. Ich habe etwas zu sagen. Ich möchte etwas tun, und sei es nur ein Stop-Tihange-Plakat ins Fenster kleben. Mitzutun in diesem großen Gespräch heißt darauf setzen, dass mich jemand sieht und hört und dass meine Stimme einen Unterschied macht – ob ich mich nun irgendwo schriftlich verewige oder einfach nur meine Nachbarin freundlich grüße. Sich vorzustellen, die Stadt hat eine Stimme: unter anderem meine, die zählt und einen Unterschied macht in dieser Stadt, in diesem Leben, auf dieser Welt.

annette[.]jantzen[at]bdkj-aachen[.]de
Foto: Thomas Weidenhaupt, holger!  CC BY-NC-ND

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